22. Mai 2011

Under Constructon - das Ende der Welt, wie wir sie kannten

Zur Ausstellung Under Construction von Benita Mylius und
Andreas Masche am 21. Mai 2011 im Salon 13 des bok (bund offenbacher künstler) in Offenbach








Einführung Frank Witzel
Fotos von Hans-Jürgen Herrmann und Thomas Kirstein

Zehn Bemerkungen über den Leerstand



1. Bei den Yobaru in Süd-Niger gab es bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts eine alle sieben Jahre stattfindende Zeremonie, bei der sämtliche Einwohner für 19 Tage das Dorf verließen und sich in einen etwa 30 Kilometer entfernten Talkessel zurückzogen. Da sie alle Habseligkeiten in ihren Hütten zurückließen, lebten die Yobaru in spärlichen Verhältnissen und unter freiem Himmel, fasteten und verbrachten die Zeit vor allem damit, Waffen herzustellen, mit denen sie nach Ablauf der 19 Tage ihr eigenes leeres Dorf überfielen, um es erneut in Besitz zu nehmen. Dieser Ritus wurde von verschiedenen westlichen Ethnologen unterschiedlich gedeutet. Meinte man anfänglich, dass die Yobaru ein historisches Ereignis nachspielten, nämlich die Eroberung und Aneignung einer feindlichen Siedlung, so gelangte man immer mehr zu der Auffassung, dass die neunzehntägige Abwesenheit ein Übergangsritual aus den Zeiten war, als die Yobaru vom Nomadentum zur Sesshaftigkeit wechselten. Der gespielte Umzug, ermöglichte es den Yobaru einerseits, ihre Behausungen leer und von außen zu sehen und damit die Hütten vom Gebrauchswert und der individuellen und gemeinschaftlichen Historie zu reinigen, andererseits genau zu dem Platz weiter- oder besser zurückzuziehen, den sie als anderen Plätzen überlegen für einen dauerhaften Wohnsitz ausgewählt hatten.



2. Der britische Mythenforscher Jonathan Cape Wielding führt die in England weit verbreiteten Legenden vom haunted house, dem heimgesuchten Haus, in dem es spukt, auf den Umstand zurück, dass man in der sich industrialisierenden Welt die Gebäude immer mehr nach ihrem Gebrauchswert beurteilte, demnach ein Haus, das verlassen, nicht mehr benutzt, jedoch auch nicht oder noch nicht abgerissen war als bedrohlich empfand, da es einen an ebenfalls leerstehende und meist unbenutzte Bauten aus der Vergangenheit erinnerte, die mit Riten, Mythen und Religionen in Verbindung standen, deren Bedeutung man längst vergessen hatte. An Hand zweier Geistergeschichten, einer aus dem frühen 17. und einer aus dem späten 19. Jahrhundert, weist er eine Verschiebung des difusen Gefühls von Furcht und Grauen hin zu einer immer konkreteren Bedrohung nach, denn wenn im 17. Jahrhundert das Bedrohliche der hautend houses vor allem darin bestand, dass sich hier eine Gegenwelt bildete zu den ebenfalls von Geistern heimgesuchten Sakralbauten, also ein Ort für Schwarzen Messen und zur Versammlung der Mächte des Bösen, so wie sich in den Kirchen die Mächte des Guten einfanden, so verwies die Geisterwelt in der Geschichte aus späteren Jahren eher auf den Besitzstand und eine Problematik innerhalb der ebenfalls durch die Industrialisierung bedrohte Ahnenfolge, sodass sich nun eher Geister in den leeren Häusern herumtrieben, welche die Häuser selbst gegen eine Benutzung schützten, weil man nicht nach deren Sinn gehandelt hatte. Der nicht beachtete Wille des Großvaters, die von der Erbschaft ausgeschlossene Tante, die verschmähte Stieftochter, das war das Personal aus dem sich die neueren Geister zusammensetzten. Jonathan Cape Wielding schreibt: "Während die Kirchen anfingen um ihre Existenz zu bangen, schienen die Geister der heimgesuchten Häuser ihnen den Weg der Neuzeit zu weisen, zu einer neuen Heimstatt des Sakralen, die den Menschen ausschließt, da das Heilige generell keinen Zweck erfüllen darf und die Distanz benötigt, um einen Wert zu verkörpern."



3. Das Unheimliche leerstehender Häuser beruht zudem auf der Vorstellung, die Häuser seien nur deshalb leer, weil sie diejenigen, die sie zu betreten wagen, verschlingen und sich einverleiben. Die Physiognomie des typischen mitteleuropäischen Hauses der Vergangenheit ähnelte nicht umsonst einem Gesicht, mit der Tür als Mund und den Fenstern als Augen. In dem großen Gaunerhandbuch, einer zwar kaum authentisch zu nennenden Fibel für "Lumpen, Halunken und Pack", die ein unbekannter Autor 1902 aus angeblich alten Dokumenten der Verbrecherzunft zusammenstellte, wird deshalb auch ausdrücklich vor dem leerstehenden Haus als leichte Einnahmequelle gewarnt. "Mag das Einsteigen in ein unbewohntes Haus auch verlockend erscheinen und leichter zu bewerkstelligen als der Einbruch in ein gewöhnliches Wohnhaus, so liegt auf diesem Tun jedoch kaum Glück, da man hier allerlei Gefahren begegnen kann. Hier treibt sich ehrenloses Gesindel herum (der Einbrecher der Vergangenheit wähnte sich im Gegensatz zu unorganisierten Verbrechern als Mitglied einer eigenen Zunft mit entsprechendem Ehrenkodex) und aus diesem Grund gleichermaßen Konstabler und Gendarme, die gern ein Auge auf verlassene Häuser werfen. Zudem habe man acht vor der Baufälligkeit und vor Spukgestalten, mögen diese nun wirklich oder auch nur in der Phantasie existieren, denn oft wurde schon einer, der eingestiegen war, um zu stehlen, selbst beraubt und ward sogar tot und erst nach Jahren aufgefunden."



4. Heidegger hat die Sprache als Haus des Seins bezeichnet. Denken, insbesondere sein eigenes Denken, war für Heidegger ein Bauen an diesem Haus, weshalb es auch verständlich erscheint, dass er in seiner Philosophie entsprechend viele Neologismen bildetet. Er selbst aber verfasste seine Werke nicht in einem Haus, sondern in der berühmten Hütte in Todtnauberg, die er praktisch für sein Werk geschaffen hatte, da sich ihm, wie er selbst sagte, in seinem Hüttendasein alle philosophischen Fragen sofort wieder aufdrängten. Simon Schier interpretiert die Hütte Heideggers, die als Begriff in seinem Werk bezeichnenderweise nicht vorkommt, als den wirklich aktiven Gegenentwurf des Philosophen und schreibt: "Die Bäuerlichkeit der Hütte wurde von Heidegger nicht allein benutzt, um dem städtischen Haus etwas entgegenzusetzen, sondern um dieses Haus mit seiner Fortschrittsgläubigkeit, seinem Gestell, wie Heidegger das Wesen der modernen Technik bezeichnete, zu unterwandern. So wie Heidegger 1929 zur Podiumsdiskussion mit Ernst Cassirer im noblen Davoser Hotel Belvédère nicht in Abendgarderobe wie sein Kontrahent erschien, sondern in Skifahrerkluft, so verwandelte er vier Jahre später am 27. Mai 1933 in seiner berühmten Rektoratsrede "Über die Selbstbehauptung der deutschen Universität" das Haus der Universität in eine Kaserne und sich selbst vom Rektor zu deren Pedell."



5. Als der Kurfürst Karl Theodor ab Mitte des 18. Jahrhunderts den Schlosspark von Schwetzingen mit verschiedenen Gebäuden und Anlagen großzügig ausbauen ließ, so setzte er dort architektonisch das um, was der mit ihm im selben Jahr, 1724, geborene Immanuel Kant in seiner aufklärerischen Philosophie anstrebte, nämlich die Entmachtung Gottes zu Gunsten selbstbestimmten Denkens. Während Kant in seinen verschiedenen Kritiken der reinen und praktischen Vernunft analytisch vorging, verfolgte Karl Theodor und seine verschiedenen Architekten und Landschaftsgärtner, darunter besonders Nicolas de Pigage und Johann Ludwig Petri, einen fast postmodernen Zugang. Indem sie nämlich die verschiedensten Heiligtümer der unterschiedlichsten Epochen in den Gartenanlagen versammelten, alle diese Bauwerke aber ihrer Funktion beraubten, lösten sie den Gedanken des Religiösen architektonisch auf. Heribert Müldicke schreibt dazu in seinem Aufsatz Atheismus in Schwetzingen: "Neben einem Apollo- und einem Minervatempel ist deutlicher Höhepunkt die mit wunderbaren Malereien und Koransprüchen verzierte Moschee, die erste Moschee auf deutschem Boden. Mit zwei Minaretten ausgestattet verwandelt sie sich beim Hindurchgehen durch einen maurisch angelegten Innengarten immer mehr in den Kreuzgang eines Klosters, als welches es vom Kirschgarten aus, wenn die Minarette nicht mehr sichtbar sind, dem Betrachter dann erscheint. Alle Gebäude sind inhaltlich leer, ihrem Sinn beraubt und nur noch Schein. Sie stehen als Sinnbilder einer vergangenen Zeit und gleichzeitig als Ausblick in die Neuzeit, denn gerade weil jegliche Religion gleichberechtigt nebeneinander gedacht wird, der Tempel, die Moschee, das Kloster, wird jegliche Religiosität verabschiedet und architektonisch der kommende Atheismus begrüßt."



6. Der Begriff des Gegenstandes, als etwas das einen Widerstand aufbietet also gegen etwas steht, wurde von dem Schweizer Philosophen Henri Baderaut Anfang der Siebziger Jahre zum ersten Mal mit dem Leerstand zusammengedacht. Baderaut schreibt: "Das leerstehende Haus wird zu einem ganz besonderen Gegenstand, da es mit seiner äußeren Hülle einerseits der inneren Leere, dem Unbewohnten und Verlassenen, andererseits den Einwirkungen von Außen standhält. Im Leerstand ist das Gebäude gänzlich sich selbst überlassen, da es weder in Stand gehalten noch benutzt wird, es ist vom Gebrauchszyklus ausgeschlossen und wird dadurch zu einem besonderen einzigartigen Gegenstand, gleichzeitig zu einem sakralen Ort, der allein an die Vergangenheit erinnert, in der Gegenwart jedoch dadurch überhöht wird, dass er keinerlei anderen Sinn hat als sich selbst darzustellen, sich selbst zu zeigen." Dass nur wenige Menschen diese "sakrale Wirkung" erkennen, liegt nach Baderaut darin begründet, dass sie nicht bereit sind, das leerstehende Gebäude in seinem akuten jetzigen Zustand zu begreifen und anzuschauen. Sie sehen das Gebäude vielmehr als das an, was es einmal war, also als stillgelegte Fabrik, verlassenes Wohnhaus, nicht länger benutztes Bürogebäude und stellen die Idee der Funktionalität über die des tatsächlich Vorhandenen. Dabei übersehen sie, dass gerade durch den Leerstand, so Baderaut, die eigentliche Bestimmung des Gebäudes, seine Gegenständlichkeit, im Gegenstehen gegen Wetter, Tageszeiten, die Zeit, und am Ende im Gegenstehen gegen seine Erbauer und Bewohner, in besonderer Weise zum Vorschein kommt.



7. 1964 komponierten Burt Bacharach und Hal David einen Song mit dem Titel A House is Not a Home, in dem sie eine sehr geschickte Unterscheidung zwischen dem Haus und dem Heim vornehmen. A chair is still a chair, even if there's no one sitting there, heißt es gleich in der ersten Zeile und während alle Dinge auch unbenutzt ihre Identität bewahren, so kann ein Haus, folgt man dem Songtext, nie ein Heim sein, wenn man in ihm allein ist. Hier ist der Leerstand ein gefühlter sozusagen, ein subjektiver, denn das Haus kann sich sofort wieder in ein Heim verwandeln, sobald die Geliebte zurückkehrt. Vierzig Jahre später greift Burt Bacharach dasselbe Thema noch einmal in dem Song This House is Empty Now auf. Er behandelt sein Sujet ähnlich, kehrt jedoch die Perspektive um, indem er der Geliebten sagt, wenn sie geht, kann sie abschließen und den Schlüssel wegwerfen, denn dieses Haus ist von nun an leer: There's no one living here / You have to care about. Das Haus als Nicht-Heim wird so leer, dass selbst derjenige, der zurückbleibt von dieser Leere verschluckt, oder um es mit Heidegger zu sagen, genichtet wird.




8. In einem Symposium zum modernen Siedlungsbau, das Anfang der Neunziger Jahre, also noch vor dem eigentlichen Chinesischen Boom, in Shanghai stattfand, radikalisierte der niederländische Architekt van Reuningen die Idee Baderauts, indem er Gebäuden generell jegliche Funktionalität absprach. Funktionen waren für van Reuningen lediglich Zuschreibungen. Im selben Symposium nahm der chinesische Architekt Lun Hei Gu eine entscheidende Unterscheidung zwischen Gebäude und Baugrund vor. Dazu führte er aus, dass im chinesischen Denken der Feuerplatz vom Feuer selbst getrennt wahrgenommen wird und deshalb in der traditionellen chinesischen Mythologie auch zwei Götter existieren, ein männlicher für das Feuer und ein weiblicher für den Feuerplatz. Lun Hei Gu gibt diese Vorstellung als Grund dafür an, dass sich das Prinzip der Unterkellerung im chinesischen Raum bislang nur schwer durchsetzte, weil es die Unterscheidung zwischen Gebäude und Baugrund verwischt und aufhebt. Er schlägt deshalb vor, den Keller eines Gebäudes nicht als Teil des Gebäudes zu begreifen, etwa wie bei einem Baum dessen Wurzeln, die sich in der Erde eingraben, um dem Stamm Halt zu geben, sondern als Teil der Erde, also des weiblichen Teils, der wie die Feuerstelle ummantelt ist, damit das Feuer auf diesem Platz brennen kann.




9. Zwischen Gordon Matta-Clark, der in den Siebziger Jahren die leeren Räume durchdrang, Häuser aufschnitt und zerteilte und Christo, der sie einpackte, um auf ihren gegenständlichen Charakter jenseits des Nutzens hinzuweisen, steht der türkische Künstler Acarbey Talayer, der sich in den Achtziger Jahren das Prinzip des Gecekondu für seine Kunst aneignete. Ein Gecekondu ist ein Haus, das ohne Baugenehmigung auf öffentlichem Boden errichtet wird, aber nach immer noch geltendem osmanischen Gewohnheitsrecht nicht abgerissen werden darf, wenn es in einer Nacht, gece, fertig wird. Acarbey Talayer baute im Regierungsviertel von Istanbul immer wieder nachts kleine Hütten und Container, um dort Obdachlose und Bewohner aus Armenvierteln in unmittelbarer Nähe der Staatsgebäude und Politikervillen unterzubringen. Acarbey Talayer sieht das Gecekondu darüber hinaus auch als architektonisches Symbol für die Politik seines Landes generell, da es das Prinzip normaler Architektur unterläuft, die auf Stabilität, Statik, auf Haltbarkeit und besonders auf die Bedürfnisse der Bewohner hin plant. "Beim nächtlichen Errichten des Gecekondus", sagt Acarbey Talayer, "kann es nur darum gehen, ein Stück Leere zu umbauen, den Leerstand als ein Faktum zu schaffen, die Leere zu ummanteln und mit Besitzrechten zu belegen, um daraus ein fragwürdiges Wohnrecht abzuleiten."



10. Ganz aktuell ist die Theorie des Japaners Matsumoto Keiji, der parallel zu dem Supergau im Atomkraftwerk Fukushima eine Theorie über den postkatastrophalen Leerstand entwickelte. Matsumoto geht dabei von dem traditionellen japanischen Begriff des mono no aware aus, wörtlich der Traurigkeit der Dinge. Diese Traurigkeit der Dinge wird beim Betrachter durch einen Gegenstand hervorgerufen, der in einer Mischung aus Schlichtheit und Besonderem, aus Kunstfertigkeit und Normalität, ein Changieren in der Wahrnehmung hervorruft, etwa wenn es ein Gegenstand ist, der nicht mehr benutzt wird und scheinbar vereinsamt dazuliegen scheint. Die verlassenen Unglücksstellen atomarer Katastrophen drücken für Matsumoto jedoch nicht allein Traurigkeit aus, sondern gleichen den hinter Glas ausgestellten Gemälden, die ihre eigentliche Bedeutung längst verloren haben, so wie die Kirchen, die nur noch von Touristen besucht werden. Die wahren Orte der Bedeutung aber sind die verlassenen Städte und Dörfer in der Umgebung der Unglücksstelle, weil sie das Opfer verkörpern und damit eine über den individuellen Menschen hinausweisende Realität, wenn diese auch nicht länger von Göttern, es sei denn man sehe die radioaktiven Elemente als solche an, sondern vom Menschen selbst geschaffen wird. Hier aber kehrt sich die Bedeutung erneut um, denn die leerstehenden Gebäude geben dem Künstlichen und rein Funktionalen seine tiefere Bedeutung zurück, weil sie dem Menschen und seiner Vorstellung von Zweckmäßigkeit widerstehen und auf die reine Idee verweisen: Die Idee des Wassersilos, des Schlachthofs, des Bürogebäudes. Das Heilige und Numinose aber scheint sich überall offenbaren zu können, sei es in einer leerstehenden Kirche, einem unbenutzten Fabrikgebäude, einer umgebauten Großmarkthalle oder einem in Kunstharz gegossenen Kernkraftwerk, sobald eine wichtige Voraussetzung erfüllt ist: Die Abwesenheit des Menschen.

1 Kommentar:

  1. It's nice to see how you develop concept of exhibition and realized after all. I saw Benita
    in Den Haag few weeks a go. I hope it's good cooperation for future.

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